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EnergiewendeAnti-Atomkraft"Nachhaltiges Risiko": Atomkraft bremst Energiewende und hilft kaum als Gas-Ersatz

„Nachhaltiges Risiko“: Atomkraft bremst Energiewende und hilft kaum als Gas-Ersatz

Aktuell wird von verschiedenen politischen Akteuren eine Laufzeitverlängerung für die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland ins Spiel gebracht. Die Unionsparteien von CDU und CSU wollen morgen (7.7.2022) einen entsprechenden Antrag in den Bundestag einbringen. Bereits heute hat das EU-Parlament über die umstrittene Taxonomie-Verordnung abgestimmt. Demnach gelten Atomenergie und fossiles Erdgas künftig als „nachhaltig“.

Was bedeutet die Taxonomie-Richtlinie der Europäischen Union?

Von den 705 stimmberechtigten Abgeordneten des EU-Parlaments stimmten heute nur 278 gegen die Aufnahme von Atomenergie und Erdgas in die sogenannte Taxonomie der Europäischen Union. Die Taxonomie soll Anleger:innen einen Leitfaden geben, welche Investitionsmöglichkeiten als nachhaltig gelten können und welche nicht. Die heutige Entscheidung des EU-Parlaments bedeutet, dass ab Anfang 2023 Atom- und Gaskraftwerke unter gewissen Voraussetzungen als „klimafreundlich“ vermarktbar werden.

Österreich und Luxemburg haben bereits im Vorfeld der Abstimmung angekündigt, gegen die Entscheidung Klage beim Europäischen Gerichtshof einzureichen. Auch die Umweltschutzorganisation Greenpeace e.V. will das Votum nicht akzeptieren und Klage einreichen. “Der wachsende Wunsch in der Bevölkerung, mit Geldanlagen das Klima zu schützen, kann der Motor eines schnellen Umstiegs auf saubere erneuerbare Energien sein”, sagt Greenpeace-Finanzexperte Mauricio Vargas.

Nicht zu vergessen: Atomkraftwerke sind und bleiben ein unkalkulierbares Risiko. Sie produzieren radioaktiven Abfall, der über Jahrtausende weiter gefährlich bleibt und für den es keine sicheren Entsorgungskonzepte gibt. Zugleich drohen bei den teils überalterten Atomreaktoren Störfälle. Und auch die angebliche Versorgungssicherheit ist nicht immer gewährleistet, wie die zahlreichen Notabschaltungen etwa in Frankreich belegen. AKWs, ob alt oder neu, sind Milliardengräber, die nur mit massiven staatlichen Investitionen überhaupt gebaut werden können – und dann regelmäßig Zeit- und Kostenpläne sprengen. Sie leisten keinen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung der Klimakrise. Im Gegenteil schaden sie der Energiewende, denn unflexible AKWs verstopfen die Netze für Wind- und Sonnenstrom.

AKW-Laufzeitverlängerung ersetzt maximal ein Prozent des Erdgasverbrauchs

Bisher war unklar, wie groß überhaupt der Nutzen von längeren Laufzeiten der Atomkraftwerke (AKW) als Ersatz für Erdgas wäre. Laut den jetzt vorgelegten Energiemarkt-Modellierungen von Energy Brainpool im Auftrag von Green Planet Energy hätte der Weiterbetrieb der drei noch am Netz verbliebenen deutschen Atomkraftwerke Isar II, Neckarwestheim II und Emsland nur einen minimalen Effekt, weil Gaskraftwerke im Strommarkt vor allem Spitzenlasten abdecken und dabei nur selten zum Einsatz kommen. Darüber hinaus werden Gaskraftwerke oftmals im Wärmebereich genutzt und passen ihre Produktion nicht an den Strommarkt an. Insgesamt ist das Einsparpotenzial für Gas über Veränderungen im Strommarkt aus diesen Gründen niedrig.

AKW Isar 2
Eigentlich ganz schön hier… – Das AKW Isar II liegt in der Einflugschneise des Münchner Flughafens und stellt ein ernsthaftes Sicherheitsrisiko dar. Foto: iStock / nick4marin

Den Berechnungen zufolge wurden 2020 in Deutschland insgesamt 875 Terrawattstunden (TWh) Erdgas verbraucht. Ließe man alle drei AKW im Jahr 2023 weiterlaufen, könnten sie zusammen maximal 8,7 TWh des Erdgasverbrauchs einsparen, was einem Prozent des angenommenen Jahresverbrauchs entspricht. Bei zwei AKW wären es noch maximal knapp 5,5 TWh beziehungsweise 0,6 Prozent. Wenn nur eines der AKW in Betrieb bliebe, reduziert sich der Effekt laut Energy Brainpool auf 3,1 TWh bzw. 0,4 Prozent der Verbrauchsmenge von 2020.

Die Einsparpotenziale würden zudem noch geringer ausfallen, sollten die Atomkraftwerke aus technischen Gründen zeitweise abgeschaltet oder gedrosselt werden müssen. „In der drohenden Gas-Krise auf längere Atomlaufzeiten als Gegenmittel zu setzen wäre nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein“, kritisiert Sönke Tangermann, Vorstand bei Green Planet Energy. „Aufwand, Kosten und Risiken einer Laufzeitverlängerung stehen in keinem sinnvollen Verhältnis zum Nutzen.“

AKW ersetzen Kohlekraftwerke und erhöhen Stromexporte

„Wir haben mit der historischen Verfügbarkeit der Kernkraftwerke gerechnet, vor dem Hintergrund einer so kurzfristigen Laufzeitverlängerung ist das ein Best-Case-Szenario“, sagt Fabian Huneke, Energieexperte bei Energy Brainpool. „Wenn die Kernkraftwerke insgesamt weniger Strom produzieren, reduziert sich natürlich auch das Einsparpotenzial.“ In der Modellierung zeigte sich: AKWs ersetzen vor allem Stromerzeugungen aus Braun- und Steinkohlekraftwerken und erhöhen die Stromexporte.

In Betrieb sind die drei noch laufenden Atomkraftwerke seit 1988 bzw. 1989, sie arbeiten im kommenden Jahr also seit 34 beziehungsweise 35 Jahren. Ihr Weiterbetrieb über das im Atomausstieg festgelegte Enddatum Ende 2022 wäre mit hohen Kosten verbunden, da den Meilern nicht nur Uranbrennstoff, sondern auch Personal und wichtige Sicherheitsüberprüfungen fehlen. Die Wahrscheinlichkeit zeitweiser Abschaltungen oder Drosselungen steigt mit den Betriebsjahren.

„Die Diskussion über eine Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken ist unverhältnismäßig, wenn in Betracht gezogen wird, dass hiermit kaum etwas erreicht würde. Wenn wir tatsächlich nennenswert Gas einsparen wollen, müssen wir dies im Wärmebereich tun“, so das Fazit von Sönke Tangermann. „Insbesondere gibt es eine Menge gasbefeuerter wärmegeführter Kraftwerke, wie etwa Blockheizkraftwerke, bei denen Strom nicht nachfrageorientiert produziert wird. Hier kann deutlich mehr Gas eingespart werden als durch eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke, die mittlerweile sowieso unrealistisch ist“, meint der Vorstand von Green Planet Energy.