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EnergiewendeAnti-AtomkraftWie deutsche Atomlobby und russische Atomwirtschaft verflochten sind

Wie deutsche Atomlobby und russische Atomwirtschaft verflochten sind

Der deutsche Atomlobby-Verband „KernD“ plädiert angesichts der aktuellen Gas-Krise für mehr Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern und für einen Weiterbetrieb von Atomkraftwerken zur Energiesicherung auch über den Jahreswechsel hinaus. Dabei gibt es in der Atombranche ähnliche Verflechtungen mit Russland wie im Gashandel. Was bisher weitgehend unbekannt ist: Der KernD-Vorstandsvorsitzende Thomas Seipolt fungiert nicht nur als oberster deutscher Atomlobbyist, sondern auch als Chef einer deutschen Tochterfirma der russischen Energiegesellschaft Rosatom. Nun fordern Green Planet Energy, aber auch erste Stimmen aus Politik und Fachkreisen, diese Personalunion samt Verflechtungen im Atomsektor sofort zu beenden.

Das deutsche Unternehmen Nukem Technologies GmbH – mitverantwortlich für den Rückbau der hiesigen Atomkraftwerke – ist fest in der Hand des staatlichen russischen Konzerns Rosatom. Und der Geschäftsführer der Tochterfirma Nukem Technologies Engineering Services GmbH, Thomas Seipolt, ist als Vorstandsvorsitzender des Vereins Kerntechnik Deutschland e.V. (KernD) zugleich der höchste deutsche Atomlobbyist.

Sönke Tangermann, Vorstand bei Green Planet Energy kritisiert die personellen Verflechtungen. Foto: Christine Lutz / Green Planet Energy eG

„Damit existiert eine direkte Verbindung der von Wladimir Putin selbst gegründeten staatlichen Atomagentur Rosatom in die deutsche Atomlobby, ohne dass dies einer breiten Öffentlichkeit bewusst wäre“, kritisiert Sönke Tangermann, Vorstand der Ökoenergiegenossenschaft Green Planet Energy.

Das Vorgängerunternehmen Nukem (Nuklear-Chemie und -Metallurgie GmbH) war schon 1960 als Brennelemente-Hersteller für Forschungsreaktoren vom Chemiekonzern Degussa in Hanau gegründet worden. Mit der Ansiedlung entstand dort ein ganzes Geflecht von Nuklearfirmen, immer unter der Beteiligung von Nukem. So kamen später unter anderem die Bereiche Anlagenbau, Transport von radioaktiven Stoffen und Uranhandel hinzu. Ein wichtiger Partner von Nukem und dominierender Anteilseigner in diesem Firmengeflecht wurde der Atomkraftwerksbetreiber RWE, der Nukem schließlich komplett von Degussa übernahm. Nach einem Skandal um die Tochterfirma Transnuklear wurde dem Mutterkonzern die Betriebsgenehmigung entzogen, und das Unternehmen verlagerte seinen Sitz 1991 ins bayerische Alzenau. 2006 veräußerte RWE die Nukem-Gruppe an einen Finanzinvestor. Der Handel mit Brennstoffen und Isotopen wurde in der Nukem GmbH gebündelt. Die Geschäftsbereiche Rückbau, Management von radioaktiven Abfällen sowie Ingenieurtechnik gingen im selben Jahr an die Nukem Technologies GmbH über. Diese Firma wurde 2009 vom russischen Kraftwerksbauer Atomstroyexport für einen Kaufpreis von 23,5 Millionen Euro zu 100 Prozent übernommen.

NUKEM-Imagevideo auf Youtube.

Russisches Atomkonglomerat

Zwei Jahre zuvor, im Dezember 2007, hatte Russlands Präsident Wladimir Putin das Gesetz zur Gründung der Föderalen Agentur für Atomenergie Russlands erlassen: Rosatom. Die Agentur kontrolliert sowohl den militärischen als auch den zivilen russischen Atombereich – darunter das Unternehmen Atomstroyexport. Rosatom ist nach eigenen Angaben führend in der Urananreicherung mit einem Anteil von 35 Prozent am Weltmarkt, weltweit die Nummer zwei im Bereich Uranvorräte und an vierter Stelle bei der Uranförderung.

Mit der Übernahme von Nukem Technologies hatte sich Atomstroyexport 2009 den Zugang zum europäischen Markt und das Knowhow für den Rückbau von AKWs mit westlicher Technologie gesichert. Der Tätigkeitsbereich des Unternehmens war schon damals die Stilllegung kerntechnischer Anlagen und nukleares Abfallmanagement sowie und Engineering und Consulting, besonders im Bereich der Hochtemperaturreaktor-Brennelemente-Technologie.

Atomkraft Warnzeichen in Tschernobyl
Auch im ukrainischen Tschernobyl war Nukem Technologies aktiv. Foto (Symbolbild): iStock / Omer Serkan Bakir

Zum Zeitpunkt der Übernahme war Nukem Technologies in mehreren Ländern tätig: In zwei Großaufträgen zur Errichtung von Zwischenlagern für abgebrannte Brennelemente in Litauen und Bulgarien. In Litauen errichtete die Firma zudem einen Komplex zur Behandlung fester radioaktiver Abfälle, im ukrainischen Tschernobyl ein Abfallbehandlungszentrum. Weitere Projekte waren in Russland, Südafrika und Frankreich angesiedelt. 2008 wies das Unternehmen Umsätze in Höhe von 23,7 Mio. € aus; 98,8 Prozent davon erwirtschaftete es im Ausland.

Im Jahr 2011 schafft das Unternehmen den Wiedereinstieg in den deutschsprachigen Markt nach dem Transnuklear-Skandal. Ab diesem Zeitpunkt kann also davon ausgegangen werden, dass das russische Staatsunternehmen Rosatom nicht nur Schlüsselstellen in der Wertschöpfungskette der deutschen Atomwirtschaft besetzt, sondern auch am Rückbau deutscher Kernkraftwerke verdient.

Thomas Seipolt: Atomlobbyist auf russisch kontrollierter Gehaltsliste

Thomas Seipolt studierte nach eigenen Angaben Maschinenbau und Kerntechnik in Zittau. Anschließend war er sieben Jahre lang technischer Leiter bei einem Atom-Rückbau-Unternehmen in Dresden. 2002 heuerte er als Abteilungsleiter bei Nukem Technologies im bayerischen Alzenau an, stieg dort 2009 zum Bereichsleiter auf und ist seit 2014 Geschäftsführer der Tochterfirma Nukem Technologies Engineering Services GmbH. Eine Beförderung unter russischer Aufsicht. Seit 2021 ist Thomas Seipolt zudem Vorstandsvorsitzer von Kerntechnik Deutschland e. V. (KernD), einem Zusammenschluss des Deutschen Atomforums e. V. und des Wirtschaftsverbandes Kernbrennstoff-Kreislauf und Kerntechnik e. V.

AKW Isar 2
KernD plädiert für das Weiterlaufenlassen der verblieben deutschen AKWs, wie hier Isar 2. Foto: iStock / nick4marin

Angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der damit zusammenhängenden Frage der Energieimporte zweifelt der Verband an der „Machbarkeit und Sinnhaftigkeit“ des Atomausstiegs. KernD plädiert vorgeblich zur Sicherung der Energieversorgung für einen Weiterbetrieb der Atomkraftwerke über den Jahreswechsel hinaus. Nur so könne ein Beitrag zur Energieversorgungskrise geleistet werden, die „noch mehrere Jahre andauern“ werde. Ein diskutierter Streckbetrieb sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr sinnvoll. Um Strompreis und CO2-Ausstoß zu minimieren, sei die Beschaffung neuer Brennstäbe dringend nötig. Auf Twitter schmückt sich der Verband gerne mit Aussagen der deutschen Mittelstands- und Wirtschaftsunion, die unter anderem fordert, sich durch längere Laufzeiten aus „den Fängen Putins [zu] befreien“.

Umso paradoxer erscheint es, dass der Vorstandsvorsitzende von KernD selbst auf der Gehaltsliste eines russisch kontrollierten Unternehmens steht. Mit der zentralen Rolle im Atomsektor spielen längere Laufzeiten und der Ausbau der Atomkraft in Europa vor allem Russland in die Hände. In Deutschland ist im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern zwar keine direkte Abhängigkeit von Brennstoffen feststellbar, aber durch den Kauf von Nukem Technologies hat sich Russland eine strategische Position im europäischen Markt gesichert – und es zudem geschafft, den obersten Atomkraftlobbyisten Deutschlands zu stellen. Thomas Seipolt bedauerte auf der Konferenz Kerntechnik 2022, „dass einige nicht über den Schatten ihrer angestammten Position springen können, komme was da wolle“. Diese Äußerung wirkt mehr als scheinheilig, wenn man bedenkt, dass Seipolt Energieunabhängigkeit vorschiebt, um russlandfreundliche Lobbyarbeit zu machen.

KernD: „Keine personellen Verflechtungen“

Mit der Frage nach russischem Einfluss auf die deutsche Atombranche konfrontiert, ist die Reaktion von KernD verwunderlich: Zwischen Rosatom und KernD gebe es „keine personellen Verflechtungen“. Nukem Technologies sei ein Traditionsunternehmen, das schon lange vor der Übernahme durch Rosatom Mitglied in der Vorgängerorganisation von KernD gewesen sei. „Insoweit stellt weder die Eigentümerstruktur noch das Verbandsengagement des Geschäftsführers von Nukem Technologies einen außergewöhnlichen Sachverhalt dar“, teilt Pressesprecher Nicolas Wendler auf Anfrage mit. Eine Abhängigkeit der deutschen Atombranche von Russland sieht der Verband nicht. Er plädiert vielmehr dafür, auf einen Atomausstieg „im Sinne der Energieunabhängigkeit und Diversität von Energiequellen und -technologien zu verzichten“.

„Interessenkonflikt muss beendet werden“

Stefan Wenzel, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Foto: Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, Kaminski

Stefan Wenzel von Bündnis 90/Die Grünen, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klima, reicht diese Erklärung nicht aus. Durch die Personalunion von Thomas Seipolt als Vorstandsvorsitzender des Atomlobbyverbandes und zugleich Chef einer deutschen Tochtergesellschaft von Rosatom entstehe ein Interessenkonflikt, der sofort beendet werden müsse. „Hier gibt es glasklare Interessen Russlands in der deutschen Atomdebatte, nämlich unsere Abhängigkeit fortzusetzen“, so Wenzel. Auf europäischer Ebene sei die Abhängigkeit im Nuklearbereich sogar noch größer als beim Gas. Wenzel erklärt: „Weil die EU in diesem Bereich auf absehbarer Zeit besonders verwundbar bleibt, hat sie die russische Nuklearindustrie bislang nicht mit EU-Sanktionen belegt.“

Kemfert: „Im Atombereich indirekt abhängig von Russland“

Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Foto: Christoph Eckelt / Green Planet Energy eG

Claudia Kemfert, Energieökonomin und Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, sieht die Verflechtungen ebenfalls kritisch: „Dadurch ist Deutschland indirekt weiterhin abhängig von Russland.“ Der russische Staatskonzern Rosatom habe weltweit eine zentrale Position aufgebaut. Dies gelte für Brennstoffe und Kraftwerkstechnologie, aber auch für neuere Atomanlagen und insbesondere für die Entsorgung des Atommülls. „Deutschland muss die problematische Zusammenarbeit mit Russland im Atom-Bereich offenlegen und beenden“, fordert Kemfert.

Dass die Energiewirtschaft Russlands unpolitisch und Lieferungen sicher seien, galt auch beim Gas jahrzehntelang als Grundannahme. „Heute müssen wir die bittere Erfahrung machen, dass Russland jede Möglichkeit nutzt, den Westen über energiewirtschaftliche Verflechtungen unter Druck zu setzen. Dessen sollte sich jeder – insbesondere in der Politik – bewusst sein, der ein Festhalten an der Atomkraft in Deutschland fordert“, sagt Green Planet Energy-Vorstand Sönke Tangermann.

Mehr zum Thema Atomkraft sowie zahlreiche Gründe und Argumente gegen eine Laufzeitverlängerung der AKWs in Deutschland finden Sie auf den Seiten unserer Kampagne Adieu, Atom!